Von den „unstoppbaren Unvernünftigen“
Eine etwas andere Gründungsgeschichte
Mit viel Schwung öffnet sich die Tür zu unserem Büro und drei fröhlich lachende Menschen kommen mit Elan, Enthusiasmus und Energie hinein. Diese drei sind schon oft gemeinsam durch Türen getreten – manche standen ihnen offen, andere wurden ihnen vor der Nase zugeschlagen und wieder andere öffneten sie sich selbst mit eben jener Energie, mit der sie gerade den Raum füllen. Daran hat sich auch nach 10 Jahren nichts geändert. Auf all diese Erfahrungen, vor allem aber auf all die unvergesslichen Momente aus 10 Jahren Bürgerwerke blicken die Gründungsvorstände Torsten Schwarz, Felix Schäfer und Kai Hock in einem gemeinsamen Gespräch zurück.
Der Anfang: Wo sich Wege kreuzen
Wie ist die Idee der Bürgerwerke überhaupt entstanden? Von außen betrachtet haben drei Menschen zusammengefunden, die zunächst auf ziemlich unterschiedlichen Wegen unterwegs waren. Torsten war als Manager, Berater und Geschäftsführer im Energiesektor tätig. Felix studierte Physik, Kai Molekulare Biotechnologie und später Nonprofit-Management. Zusammengebracht hat sie ihr Engagement für den Ausbau Erneuerbarer Energien. Mit Andreas Gißler und Nicolai Ferchl gründeten Kai und Felix 2010 die Heidelberger Energiegenossenschaft (HEG), weil sie selbst anpacken und nicht warten wollten, bis in Heidelberg mehr passiert in Sachen Energiewende. Schon bald war die ehemals studentische Initiative mit den Herausforderungen der Ökostrombranche konfrontiert – oder wie Kai es formuliert: „Der EEG-Hammer hat im Prinzip der Energiewende das Licht ausgeknipst.“ Und das Problem beschäftigte Anfang der 2010er Jahren nicht nur die Heidelberger, sondern alle Energiegenossenschaften. Damit gab es für die Bürgerenergie-Bewegung zwei Möglichkeiten: entweder arbeitet jede Bürger-Energiegenossenschaft weiterhin für sich – mit ziemlich geringen Erfolgsaussichten - oder sie bündeln ihre Kräfte – ganz nach dem genossenschaftlichen Grundgedanken: „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele.”
Die Entscheidung: Kräfte bündeln
Und genau hier kam Torsten ins Spiel: „Ich habe 2012 beim Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband einen Vortrag zum Thema ‚Wie könnten Genossenschaften zusammenarbeiten?‘ gehalten”, beginnt Torsten zu erzählen. „Der Raum war voll und so ziemlich alle waren ü60. Vollkommen untypisch also, dass da plötzlich vier Studenten reinkommen.“
Die „vier Unerschrockenen aus Heidelberg“, die HEG-Gründer Nicolai, Andreas, Felix und Kai, waren genauso überzeugt, dass das der richtige Weg ist. Schnell war die Richtung klar: nichts weniger als eine Dachgenossenschaft wollten sie gründen, um gemeinsam mit anderen Energiegenossenschaften aus ganz Deutschland einen Ökostrom-Versorger aufzubauen, der uns Bürger:innen gehört.
Doch nicht nur die Heidelberger Energiegenossenschaft war mit an Bord. Heute wissen wir: Die Begeisterung für die Idee verbreitete sich auch außerhalb dieses kleinen Kreises schnell! Am 13.12.2013 trafen sich in Heidelberg 20 Menschen aus neun Energiegenossenschaften mit dem Ziel, gemeinsam Aufgaben zu lösen, die sie allein nicht bewältigen konnten. Die Bürgerwerke waren geboren!
Auch nach über 10 Jahren erinnert sich Torsten noch genau an die erste Begegnung mit Felix und Kai.
Der Aufbau: Prozess und Irrtum
Was sich rückblickend so schön und scheinbar reibungslos erzählen lässt, verlief für unsere drei Bürgerwerke-Gründungsvorstände Kai, Felix und Torsten nicht ganz so geradlinig – oder wie Torsten es laut lachend formuliert: „Unsere erste Geschäftsplanung war im Rückblick eigentlich für die Tonne.“ Immer wieder erlebten die drei das, was sie heute als „Realitätschecks“ bezeichnen: Situationen, in die sie zuerst mit Zuversicht und ein bisschen Naivität hineingegangen sind, um dann festzustellen, dass das so nicht funktioniert. In all diesen Momenten jedoch waren das Gemeinschaftsgefühl, der Zusammenhalt und die Überzeugung, an etwas Großem zu arbeiten, so verbindend, dass sie alle bereit waren, diesen Weg weiterzugehen – auch wenn dabei manchmal Kleidungsfragen zur Herausforderung wurden. So geschehen bei einem Banktermin: Als Torsten im forstwirtschaftlichen Outfit bei Kai und Felix ankommt, ist für die beiden klar: „Wir müssen uns doch schick machen“, überzeugten die beiden Studenten den Unternehmensberater. Schnell bekam Torsten ein Hemd von Felix und Schuhe von Kai und so ging es, frisch eingekleidet, zum gemeinsamen Banktermin. Den Kredit gab es auch mit schicker Kleidung übrigens erstmal nicht.
Auch unabhängig von den Kleiderkonventionen ist das Bankenwesen für Torsten ein geeignetes Beispiel, um über die Vergangenheit und Zukunft von Bürgerenergie zu sprechen. Denn schon in den Anfangsjahren der Bürgerwerke hatte er eine Vision: „Genossenschaften sollten in der Energiewelt wie in der Bankenwelt die dritte Kraft sein. Dort gibt es Privatbanken, kommunale Banken und Volksbanken, die genossenschaftlich organisiert sind. Damals habe ich gesagt: Bei den Volksbanken arbeiten rund 150.000 Menschen. Das ist und bleibt meine Vision für die Bürger-Energiegenossenschaften.“
An eines der ersten Bilder aus der Anfangszeit erinnern sich die drei noch gut: „Eigentlich war der Fachschaftsraum der Pädagogischen Hochschule unser erstes Headquarter. Auf dem Bild sieht man: Wir haben außer der Reihe auch mal draußen gearbeitet“, erzählt Torsten.
Übrigens: Auch Martin (2.v.l.) war von Anfang an dabei und ist bis heute Teil des Bürgerwerke-Teams.
Zu sehen ist neben Torsten, Kai und Felix auch Martin, der sich damals in seiner Bachelorarbeit mit der Frage befasste, wie Genossenschaften Stromversorger werden können. Auf Martins Forschungsgrundlage und orientiert an einer Vorlage von Torsten entstand so nach und nach der erste Geschäftsplan der Bürgerwerke: Es wurden Tarife kalkuliert, ein Geschäftsmodell skizziert, Kundenzahlen, Roherträge sowie Sach- und Personalkosten gegengerechnet. „Nach einigen der Parameter von damals steuern wir übrigens noch heute, nur lagen wir bei manchen der ersten Annahmen halt knapp eine Größenordnung daneben“, führt Felix mit einem Augenzwinkern aus und Kai ergänzt: „Am Ende des Tages ist es ja auch ein Prozess. Wir haben plausible Annahmen getroffen, die wir für wahrscheinlich gehalten haben, und dann in der Realität immer wieder dazugelernt. Und wie heißt es so schön: Planung ersetzt Zufall durch Irrtum.“
Die Überzeugung: Hier sollen Arbeitsplätze entstehen!
Mit einer Überzeugung lagen die drei glücklicherweise aber ganz und gar nicht daneben: „Uns war schnell klar: Das, was wir vorhaben, geht nicht nur mit einer Genossenschaft im Ehrenamt”, erinnert sich Kai zurück. Für die drei war gleich von Beginn an klar: Hier sollen Arbeitsplätze entstehen!
Was heute sinnvoll und logisch klingt, war damals für den genossenschaftlichen Prüfungsverband nicht direkt klar. Auf dessen erste Rückmeldung, die Idee einer Bürgerwerke-Dachgenossenschaft könne nicht umgesetzt werden, antworten die drei damals wie heute mit einem überzeugten „Doch!“. Motiviert verfolgten die Bürgerwerke-Gründer ihren Plan, überzeugten den Prüfungsverband und stellten 2014 die erste festangestellte Mitarbeiterin ein: Viktoria. Jetzt gab es plötzlich eine Person, die in ihrem ersten Job nach dem Studium auch eine gewisse Erwartungshaltung mitbrachte und mit der das junge Unternehmen eine ganz neue Verantwortung einging. Doch genau für solche Verpflichtungen war es an der Zeit, wie sich Felix erinnert: „Was mich damals so motiviert hat, war das Gefühl, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war: Genossenschaften hatten ein Problem und suchten nach etwas Neuem. Wir hatten die Lösung und in unserem Team die Kombination aus Branchenkenntnis, Erfahrung und großer Begeisterung. Mir war klar, ich kann jetzt nicht sagen, wir warten noch ein Jahr – das Ding passiert jetzt!“
Klarheit damals wie im Interview: Wir handeln jetzt!
Der Antrieb: Noch immer ist Jetzt!
Und dieses Jetzt gilt immer noch: „Wir sind immer noch dabei, in die eigentliche Größe der Idee hineinzuwachsen”, erzählt Kai mit Überzeugung. Denn genau das ist es, was die Bürgerwerke in seinen Augen sind: „ein Transformationsmotor“.
Während es vor 10 Jahren nichts gab außer einer Idee, sind die Bürgerwerke heute ein wirkungsorientiertes Unternehmen, in dessen Geschäftsstelle und Mitgliedsgenossenschaften zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen wurden. Die Bürgerwerke zeigen: Die Kombination aus gesellschaftlichem Engagement und Unternehmertum ist erfolgreich. „Die Bürgerwerke sind im doppelten Sinne eine Energiegemeinschaft”, erklärt Felix enthusiastisch, „weil unsere Mitgliedsgenossenschaften Erneuerbare Energien gemeinsam erzeugen und weil in unserer großen Gemeinschaft so wahnsinnig viel Energie steckt.“
Die Energie vieler unterschiedlicher Menschen mit ihren Kompetenzen und Ideen zusammenbringen, Kräfte bündeln, gemeinsam lernen und weiterentwickeln – immer mit der gemeinsamen Begeisterung, die zusammenschweißt. Das ist, wie die drei verraten, eines der Geheimnisse, weshalb die Bürgerwerke so erfolgreich sind. Wie zahlreiche andere energiegeladene Menschen in den letzten zehn Jahren haben auch unsere drei Gründungsvorstände mitgewirkt, gelernt und sich weiterentwickelt, ohne dabei das gemeinsame Ziel der Energiewende aus den Augen zu verlieren: Torsten setzt seine Kompetenzen in der Energiebranche inzwischen als Geschäftsführer eines Projektentwicklungsunternehmens für Agri-PV-Anlagen ein. Die ehemaligen Studenten Kai und Felix leiten heute als Vorstände die Bürgerwerke mit über 45 Mitarbeitenden, mehr als 125 Mitgliedsgenossenschaften und unzähligen „unstoppbaren Unvernünftigen“, wie Torsten bei der Gründung der Bürgerwerke all diejenigen nannte, die sich auch von herausfordernden Rahmenbedingungen nicht von ihrer Begeisterung für die Energiewende in Bürgerhand haben abbringen lassen.
Aus drei dieser ehemals „unstoppbaren Unvernünftigen” wurden die Gründungsvorstände der Bürgerwerke. Was anfangs wie eine unvernünftige Idee wirkte, ist heute Arbeitsplatz und Wirkungsstätte für eine Gemeinschaft von mehr als 50.000 Menschen, die nicht müde werden, jeden Tag für die Energiewende in Bürgerhand aufzustehen. Und das haben sie mit Felix, Kai und Torsten gemeinsam, denn auch die drei sind glücklicherweise auch nach 10 Jahren Energie in Gemeinschaft nicht zu stoppen.
Hannah Mieger-Höfer
schreibt, spricht und postet für Energie in Gemeinschaft
Durch Wort und Tat steckt sie Menschen mit ihrer Liebe zur Literatur und ihrer Begeisterung für Bürgerenergie an. Und dabei ist sie meistens kaum zu überhören: Ob beim Reden, Lachen oder Karaokesingen, sie ist laut, lebendig und immer mit vollem Herzen dabei.